Benedikt Kauertz: Bei Milch zeigt der Getränkekarton das günstigste ökobilanzielle Profil aller Verpackungen
Benedikt Kauertz, Fachbereichsleiter für das Thema Verpackungen beim Institut für Energie und Umwelt in Heidelberg, hat die ifeu-Ökobilanz 2020 erstellt. Im Interview erläutert er die Ergebnisse, spricht über die Rolle des Recyclings in Ökobilanzen und zeigt Optimierungspotenziale für Getränkeverpackungen auf.
Herr Kauertz, zum Einstieg und für alle Fachfremden: Was ist eine Ökobilanz?
In einer Ökobilanz berechnen und bewerten wir die Entnahme und/oder Nutzung natürlicher Ressourcen und die Emissionen von Schadstoffen in die Umweltmedien Luft, Wasser und Boden – über den gesamten Lebensweg eines definierten Produktes. Von der Gewinnung der Rohstoffe über Transportwege bis hin zum Recycling. Die Ergebnisse drücken wir dann in Umweltwirkungspotenzialen aus.
Im Fokus der öffentlichen Diskussion steht der Klimawandel, aber es gibt da auch viele weitere. Wir haben in der Ökobilanzpraxis für fast jedes Umweltproblemfeld eine eigene Wirkungskategorie. Deshalb können wir auch produktbezogene Emissionen von Luftschadstoffen, Flächenverbräuche und viele weitere bewerten.
Welche Bereiche des „Lebensweges“ werden im Detail analysiert?
Das fängt an bei der Gewinnung der Rohstoffe und geht weiter mit der Produktion der Packstoffe bis hin zur Entsorgung und dem Recycling. Beim Getränkekarton sind das z.B. Umweltlasten der Herstellung der verschiedenen Bestandteile des Verpackungssystems – also für den eigentlichen Körper aus den Papierfasern, die Kunststoffe und – je nach Getränkesegment – auch die Aluminiumschicht und die Verschlüsse.
Untersucht werden zudem auch die verschiedenen Um- und Transportverpackungen. Und nicht zuletzt alle Umweltlasten die mit der Verwertung der Verpackung einhergehen. Aber gerade die Verwertung generiert ja auch den sekundären Nutzen – wie zum Beispiel Recyclingfasern oder auch wiedergewonnenen Energie aus den thermischen Verwertungsprozessen.
Wie schneidet der Getränkekarton in der aktuellen Ökobilanz ab?
Der Getränkekarton ist bei den untersuchten Getränkesegmenten Säfte und Nektare sowie H- und Frischmilch definitiv die Einwegverpackung mit dem günstigsten ökobilanziellen Profil. Heißt: Er schneidet deutlich besser ab als die PET-Einwegflasche. Im Segment Saft/Nektar haben wir zudem untersucht, welchen Einfluss die Bepfandung dieser Einweg-Flaschen, die ab 2022 kommt, hat. Das Ergebnis: Der ökologische Vorteil von Mehrwegflaschen und Getränkekartons bleibt auch dann bestehen. Selbst bei steigenden Rezyklatanteilen hat es die Kunststoffflasche schwer, gegen Mehrweg und den Getränkekarton anzukommen.
Vergleicht man den Getränkekarton mit gut funktionierenden Glas-Mehrwegflaschen sehen wir eine Gleichwertigkeit. „Gut funktionierend“ bedeutet: Die Flaschen bleiben lange im Umlauf und werden regional vertrieben – das heißt: möglichst kurze Transportwege. Beim VDF-Poolsystem für Fruchtsaft-Flaschen ist das weitgehend der Fall. Bei Milchflaschen trifft dies aber nicht zu, wenn man sich die durchschnittlichen deutschen Verhältnisse anschaut. Hier zeigt der Getränkekarton das günstigste ökobilanzielle Profil von allen untersuchten Verpackungen.
Warum fällt das Ergebnis des Getränkekartons so gut aus?
Der große ökobilanzielle Vorteil des Getränkekartons ist, dass er zu großen Teilen aus Papierfasern aus zertifiziert nachhaltig bewirtschafteten Wäldern besteht. Und Bäume wandeln während ihrer Wachstumsphase CO2 durch Photosynthese in Kohlenstoff um. Diese Umweltleistung des Waldes rechnen wir dem Produktsystem Getränkekarton als Gutschrift für das am Ende in der Verpackung gebundene CO2 an.
Dazu kommt, dass die gesamte Prozesskette vom Baum bis zum fertigen Papier für den Karton in Nordeuropa im Rahmen einer stark integrierten Produktion erfolgt. Das heißt: Die benötigte Energie wird mehrheitlich direkt vor Ort produziert. Reststoffe der Holz- und Papierverarbeitung werden thermisch für die Strom- und Wärmeproduktion verwertet. Fossile Materialien werden kaum verwendet. Aus all diesen Gründen schneidet der Getränkekarton bei der wichtigsten Umweltwirkungskategorie, dem Klimawandel, so gut ab.
Weshalb sind nachwachsende Rohstoffe gut fürs Klima?
Nachwachsende Rohstoffe zeigen in der Klimabilanz üblicherweise weniger Beiträge als fossil basierte Werkstoffe. Das liegt vor allem an der Bindung von CO2 durch Photosynthese im Rahmen des Pflanzenwachstums. Diese Umweltleistung der Pflanzen rechnen wir den biobasierten Systemen als CO2-Gutschrift an. Eine positive Klimabilanz gibt es nur dann, wenn der Aufschluss der Rohstoffe nicht mehr fossile Energie verbraucht als in einem durchschnittlichen fossil basierten Werkstoff – wie beispielsweise Kunststoff – gebunden ist.
In der Ökobilanz blicken wir ja auch über das Thema Klima hinaus. Hier sehen wir bei Produkten aus Anbaubiomasse oft Umweltlasten aus den Agrarprozessen wie der Düngung, die dann bei einigen Wirkungskategorien wie der Eutrophierung oder der Versauerung die Umweltlasten fossiler Werkstoffe überschreiten. Ein Wald wird ganz anders bewirtschaftet als eine Anbaufläche, bei der Umweltlasten wie Düngung zur Versauerung oder Eutrophierung beitragen. Deshalb erzielt der Werkstoff Papier auf Basis einer zertifiziert nachhaltigen Holzwirtschaft auch im Vergleich mit anderen biobasierten Werkstoffen oft eine gute ökobilanzielle Gesamtbewertung.
Welchen Einfluss haben Transportentfernungen und Umlaufzahlen in Ökobilanzen?
Die ökobilanzielle Bewertung der in der aktuellen Studie untersuchten Glas Mehrweggebinde wird vor allem durch die Anzahl der Wiederverwendungen – also der so genannten Umlaufzahl – und den Transportentfernungen vom Abfüller zum Handel bzw. Konsumenten bestimmt. Für eine gute ökobilanzielle Positionierung müssen die Gebinde hohe Umlaufhäufigkeiten erreichen und sollten im Idealfall vorwiegend im regionalen Kontext eingesetzt werden.
In unserer Studie sehen wir, dass diese Rahmenbedingungen auf der Projektionsebene „durchschnittliche deutsche Verhältnisse“ derzeit für die Pool Mehrwegflaschen im Getränkesegment Säfte und Nektare erfüllt werden – im Getränkesegment Milch aktuell eher nicht.
Wieso spielt das Thema Recycling in Ökobilanzen nur eine untergeordnete Rolle?
Recycling ist ein wichtiger Bestandteil in der Ökobilanz von Getränkeverpackungen. Aber zum einen gibt es neben dieser Stellschraube noch viele andere – wie u.a. Verpackungsgewichte, Umlaufzahlen und Distributionsdistanzen – zum anderen ist das werkstoffliche Recycling vor allem für solche Werkstoffe interessant, deren Primärmaterialherstellung mit großen Umweltlasten einhergeht.
Das sehen wir in der Ökobilanz besonders bei Verpackungen aus Kunststoffen oder aus Metall. Papier – das ja einer der Hauptbestandteile des Getränkekartons ist – hat vergleichsweise geringe Umweltlasten. Deshalb sehen wir dort den positiven Effekt einer signifikant erhöhten Quote der werkstofflichen Verwertung weniger deutlich als bei einer PET-Einwegflasche.
Überrascht Sie als Wissenschaftler das Ergebnis der aktuellen Ökobilanz?
Das Ergebnis der aktuellen Studie ist für uns nicht überraschend, sondern bestätigt eher die Ergebnisse, die wir bereits seit dem Jahr 1995 in vielen Studien zu dem Thema erarbeitet haben. Auch andere etablierte Ökobilanzpraktiker kommen übrigens immer wieder zu ähnlichen Ergebnissen.
Wo sehen Sie in Zukunft Optimierungspotenziale bei den drei untersuchten Getränkeverpackungen?
Die Getränkekartonhersteller wollen bis zum Jahr 2030 in ganz Europa nur noch Verpackungen anbieten, die zu 100 Prozent aus nachwachsenden und/oder recycelten Rohstoffen bestehen. PET-Flaschen lassen sich durch den Ersatz von fossilen Rohstoffen durch Gewichtsreduktion sowie den Einsatz von Rezyklaten und biobasierten Kunststoffen optimieren.
Bei Mehrweg-Glas sind die größten ökobilanziellen Stellschrauben die Steigerung und Verstetigung der Umlaufzahlen durch Standardisierung und gemeinsames Poolmanagement, eine Regionalisierung der Vertriebswege und die Erhöhung der Energieeffizienz bei der Flaschenreinigung und Abfüllung.